Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, stellen Fotografien aus dieser Zeit historische Dokumente aber auch künstlerisch-fotografische Artefakte dar, die in unterschiedlicher Art und Weise immer wieder in Ausstellungen präsentiert werden. Insbesondere beim Zeigen von Bildern der Täter und Opfer des Naziregimes und des Holocausts stellen sich zentrale bildethische Fragen in Bezug auf die adäquate Form der Kontextualisierung sowie die Einordnung des Materials, wie ein Besuch der Ausstellung "Lee Miller Fotografin – Zwischen Krieg und Glamour" im Museum für Gestaltung in Zürich (28.8.20 – 3.1.21) zeigt.
Um den Kontext von Lee Millers Kriegsfotografien zu verstehen, soll hier kurz auf ihre Entstehungsgeschichte eingegangen werden. Die Fotografin Lee Miller, die bis Anfang der 1940er Jahre vor allem durch Modeaufnahmen und ihre Nähe zu den Surrealisten bekannt geworden war, wurde 1942 offizielle Kriegsfotografin der US-Armee und arbeitete für den Condé-Nast Verlag und die Zeitschrift Vogue. Anfänglich berichtete sie aus Großbritannien, ab 1944 dann aus der Normandie und quer durch Europa auf dem Vormarsch mit den Alliierten, bis sie auch das befreite KZ Buchenwald erreichte. Ihre Eindrücke hielt sie nicht nur fotografisch fest, sondern schrieb dazu auch ausführliche Reportagen die in Vogue erschienen.
Was beim Besuch der Züricher Ausstellung am meisten irritiert, ist der nonchalante Wechsel von Mode und Surrealismus zu Krieg und Gewalt. Während die Irritation sicher kuratorisch bezweckt war, ging es doch um das Spannungsverhältnis zwischen "Glamour und Krieg", erzeugt es doch seltsame Eindrücke. So steht man etwa am Ende des Kapitels "Frauen im Krieg" vor dem Bild einer Frau, die auf einem Sofa liegt, als würde sie schlafen. Im Bildtext heißt es "The deputy Burgermeister's daugther; Rathaus Leipzig, DE, 1945". Und im Kapitel "Konzentrationslager", das als einziger als enger Raum mit dunkelgrüner Wandfarbe konzipiert wurde – vielleicht um eine klaustrophobische Wirkung zu erzielen? – springt man von den Knochenhaufen in Buchenwald in wenigen Bildern zu einem ertrunkenen SS-Mann. Die tatsächlichen Ereignisse, sie bleiben in weiter Ferne.
Nun könnte man argumentieren, da es sich in diesem Fall ja nicht um eine historische Ausstellung, sondern eine Fotoausstellung handelt, sei der Bezug zu den Ereignissen und die Vermittlung von Informationen kein zentrales Qualitätsmerkmal. Aber gleichwohl, so befürchte ich, prägen Ausstellungen dieser Art doch auch unser Verständnis von Geschichte. Von daher ist zu überlegen, wie in einer solchen Ausstellung historische Aufnahmen gezeigt werden können und was es dazu braucht. Theoretisch wäre esja auch möglich, bestimmte Aufnahmen gar nicht zu zeigen. Ziel der Ausstellung war das Leben Millers, nicht das Aufzeigen von Krieg und Gewalt. Das ist ein feiner Unterschied, anhand dessen sich gut überprüfen lässt, was wie zeigbar ist und was nicht.
Die für die Ausstellung gewählte Präsentation in schwarzen Holzrahmen mit Passepartout und akurat darunter platzierten Texttäfelchen, auf denen neben Titel und Jahr auch die Form der Herstellung der Fotografie vermerkt ist, hat vor allem in Ausstellungen historischer Fotografie Tradition. Dort geht es in der Regel darum, die Werkgeschichte nachvollziehen zu können. Je "originaler" – also historischer – der fotografische Abzug, so die Logik, desto größer ihr zeithistorischer Wert. Aber ist all das von Bedeutung, wenn es um die Leichenberge in Buchenwald oder tote SS-Männer geht? Warum ist dies im Fall von Millers Kriegsfotografien wichtig? Und ist nicht ihr Blick auf den Krieg wichtiger als die Fotografie als Artekfakt?
All dies sind Fragen, die sich mir in der Züricher Ausstellung stellen und die ausschließlich aufgrund der von den Kurator*innen gewählten Art der Präsentation entstehen. Dazu gehört auch die Entscheidung, die Magazinseiten der Vogue, die quasi den originalen Veröffentlichungskontext von Millers Fotografie darstellen, in auf einem Podest platzierte Ipads zu verbannen. Und selbst in dieser Form sind sie nicht komplett, sondern nur als unvollständige Einzelseiten zu sehen. Trotz allem lassen sich den Bildunterschriften eben doch etwas präzisere Information entnehmen, als die auf den Texttafeln unter den Bildern präsentierten. So kann man etwa erfahren, dass die Tochter des Leipziger Bürgermeister 1945 nicht schlafend auf einer Couch liegt, sondern tot ist, weil sie sich das Leben nahm.
Lee Miller selbst hat die Erfahrung der Dokumentation der Gräuel des Zweiten Weltkriegs krankgemacht. Sie hatte Alkoholprobleme, sagte sich von der Fotografie los und hatte das, was man heute vermutlich als posttraumatische Belastungsstörung beschreiben würde. Auf diesen Umstand weist auch die Kuratorin Karin Gimmel in einem Video-Trailer zur Ausstellung auf der Museumswebseite hin. Umso unerklärlicher ist dann jedoch, wieso die Ausstellung den Schwerpunkt so stark auf die Bilder an sich legt und den persönlichen Umgang Millers mit dem Krieg weitestgehend außen vorlässt. Die umfangreichen Textreportagen wäre hier z.B. ein spannendes Material gewesen. Zwar sind einige ausgewählte Seiten auf Ipads einsichtbar und liegen Bücher aus, in denen ihre Texte nach ihrem Tod separat publiziert wurden, aber im kuratorischen Konzept wurden sie zu einer Randerscheinung degradiert. Ähnliches gilt für die Arte-Dokumentation zum Leben Millers, die am Ende der Ausstellung läuft. Durch die Kombination von Millers Briefen, Interviews mit Zeitzeug*innen und anderen Akteur*innen entsteht dort eine Nähe zur Protagonistin, die dem Rest der Ausstellung fehlt. Die grundsätzliche Kritik am kuratorischen Konzept kann der Film jedoch nicht aufwiegen.
Ein weiterer, durchaus bedenkenswerter Faktor ist, dass Lee Miller selbst sich Zeit ihres Lebens dafür entschied, ihre Fotografien auf dem Dachboden ihres Anwesens Farleys House zu verstecken, wo ihr Sohn diese erst Jahre nach Ihrem Tod fand. Damit stellt sich die Frage, ob es ein Recht auf Vergessen gibt? Oder ein Anrecht darauf, dass die eigenen Bilder nach dem Tod nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? Da Lee Miller selbst es versäumte, ihren Nachlass zu regeln, müssen diese Frage die Akteur*innen beantworten, die ihr Werk vermarkten und ausstellen. Und in den letzten beiden Jahren ist doch eine interessante Häufung an Ausstellungen über Lee Miller zu beobachten. Die Form der Kontextualisierung in der Züricher Ausstellung und der narrative Bogen, der dort über ihr Leben gespannt wird, lösen in Bezug auf diese Fragen zumindest Befremden aus. Denn eines ist klar, mit jeder weiteren Ausstellung über Lee Miller wächst der Mythos Miller, steigt der Wert ihres Nachlasses. Alle die an dieser Geschichte mitschreiben, tragen ihren Teil der Verantwortung dazu bei.
Dabei ist klar, dass jeder Versuch einer Retrospektive notwendigerweise nur über Reduktion und Zuspitzung funktionieren kann. Es ist nicht Lee Miller, die uns ihre Fotografien zeigt, sondern ein Museum mit einem Kurator*innenteam, dass aus Millers Werk heraus ein Narrativ entwickelt, wer diese Fotografin war und wie ihre Bilder und ihr Leben zu lesen sind. Diskussionswürdig ist dabei jedoch, welche Schwerpunkte gesetzt werden, wie mit historischen und politischen Ereignissen umgegangen wird und welches Bild damit im nachhinein über eine bestimmte Epoche und das Wirken Einzelner darin gezeichnet wird. So wie es in Zürich passiert ist, wird es dem eigenen Anspruch, den Spagat zwischen Glamour und Krieg zu zeigen, bei weitem nicht gerechnet. Es sei denn das Ziel war zu zeigen, dass Frau eine das Kriegsgräuel ähnlich ästhetisch wie eine Modestrecke zeigen kann. Aber das wäre dann doch wirklich sehr platt.
Felix Koltermann, Oktober 2020