Darüber, was dokumentarische Fotografie bedeutet und
was nicht, lässt sich mithin trefflich streiten. Während für die einen dazu nur
Arbeiten zählen, die einen klaren fotojournalistischen Anspruch haben, der
Eingriffe in das Geschehen vor der Kamera ausschließt, sind für andere damit
auch Arbeiten möglich, die einen klaren inszenatorischen Charakter haben oder
beispielsweise mit „Found Footage“ arbeiten. Ein gutes Beispiel, wie weit die
Grenzen des Dokumentarischen in der zeitgenössischen Fotografie gezogen werden,
zeigt die Ausstellung der Gewinner des Dokumentarfotografie-Förderpreises aus
dem Jahr 2013 der Wüstenrot Stiftung, die zur Zeit im Photomuseum Braunschweig
zu sehen ist.
Der Dokumentarfotografie-Förderpreis
der Wüstenrot Stiftung ist einer der wenigen Foren in Deutschland, in denen
dokumentarische Fotografie prämiert wird. Andere Preise die einen ähnlichen
Rahmen abdecken, sind der Freelens Award oder der N-Ost Recherchepreis. Beide
existieren jedoch nicht annähernd so lange und haben nicht ein solches Prestige
wie der Preis der Wüstenrot Stiftung. Darüber hinaus ist der Preis anders als
die anderen beiden thematisch offen und verfügt über keine Altersbegrenzung.
Vergeben wird er alle zwei Jahre, zuletzt im Herbst 2015. Aktuell tourt jedoch
die Ausstellung des 10. Jahrgangs, vergeben im Jahr 2013, durch Deutschland.
Gewinner des Preises im Jahr
2013 waren vier Fotograf_innen, die alle ganz unterschiedliche Ansätze und
Themen verfolgten. Birte Kaufmann reüssierte mit der dokumentarischen Serie
„The Travellers“ über eine kleine Gemeinschaft von Iren die in Tradition der
Wanderhandwerker in provisorischen Wohnwagen und Unterkünften leben. Sara-Lena
Maierhofer überzeugte die Jury mit einer künstlerisch-konzeptionellen Arbeit
über den italienischen Medienmogul Silvio Berlusconi unter dem Titel „The
Great“. Arne Schmitt gewann mit Auszügen aus seinem Buch „Die neue
Ungleichheit“, einem in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildband über neoliberale
Architekturen in Köln. Kalouna Toulakoun überzeugte mit der Arbeit „In der
Erwartung großer Stürme“, für die er die Spuren seiner laotischen Familie auf
der ganzen Welt verfolgt.
Das Feld des Dokumentarischen
wird in diesen vier Arbeiten sehr weit aufgespannt. Was die Bildsprache angeht,
so steht nur noch die Arbeit von Kaufmann in einer klassischen dokumentarischen
Tradition. Toulakoun sucht bereits nach anderen Bildformen und bezieht sehr
stark das Umfeld und Gegenstände der von ihm porträtierten mit ein. Umgekehrt
gibt es bei Kaufmann keinerlei Bildunterschriften und damit keine Möglichkeit,
die einzelnen Bilder bestimmten Orten zuzuordnen und zu erfahren, wer die
Abgebildeten sind, während Toulakoun zu jedem Bild eine ausführliche
Bildunterschrift präsentiert.
Mit dem Fokus auf einen
konzeptionellen Ansatz bewegt sich Arne Schmitt bereits am Rande der
dokumentarischen Fotografie. Verstärkt wird dies noch durch eine eher
essayistische Präsentationsform, die aus thematischen Tafeln mit drei Bildern
und kurzen Texten besteht. Die Grenze ausgereizt bzw. überschritten hat
Sara-Lena Maierhofer. Bei ihr ist nicht ein Mal erkennbar, welche Fotografien
von ihr stammen bzw. welche Found-Footage sind. Man kann höchstens Vermutungen
anstellen. Darüber hinaus sind die Bilder auf eine Art und Weise im Raum
angeordnet, dass sie eine Stimmung zum Titel „The Great“ erzeugen sollen. Die
einzelnen Fotografien zeichnen sich dabei durch einen großen Grad an Abstraktion
aus.
Der Blick auf das
Verständnis des Dokumentarischen beim Dokumentarfotografie-Förderpreis ist
insofern wichtig, als dass Preise in der Szene eine stillbildende (Vorbild-)
Funktion vor allem für jungen Fotograf_innen haben. Die hier skizzierten Beobachtungen
reihen sich ein in Tendenzen in der zeitgenössischen Fotografie, den Begriff
des Dokumentarischen zu verwässern. Damit ist meiner Ansicht nach die Gefahr
verbunden, dass er zur Beliebigkeit verkommt und vor allem sein
dokumentarischer und soziopolitischer Anspruch, gesellschaftliche Realitäten
über authentische Bilder zu vermitteln, Schaden nehmen könnte. Keineswegs soll
damit die Qualität der einzelnen Arbeiten kritisiert werden, die jede für sich
ihren Wert haben, jedoch vielleicht besser in einem Kunst-Kontext aufgehoben
wären.
Die Ausstellung ist noch bis
zum 3. April 2016 im Photomuseum Braunschweig zu sehen. Die Gewinnerbilder sind
auch in einem Katalog vertreten, der über die Wüstenrotstiftung zu beziehen
ist.
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