Am Mittwoch den 7. Oktober 2015 war ich eingeladen, anlässlich
des 30-jährigen Jubiläums des Arabicums am Landesspracheninstitut (LSI) der
Ruhr-Universität Bochum einen Kurzvortrag über den fotografischen Umgang mit
den Nahen Osten zu halten und in die Arbeit des Fotografen Kai Wiedenhöfer
einzuführen, dessen Ausstellung „40 ouf of One Millon“ an diesem Abend eröffnet
wurde. Hier der folgt der vollständige Text meiner Rede.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Frau Kleinhaus, lieber
Herr Waschik,
ich freue mich sehr, heute
hier zu sein und mit ihnen das 30-jährige Jubiläum des Arabicum zu begehen und
bedanke mich an dieser Stelle schon ein Mal ganz herzlich für die Einladung,
hier sprechen zu dürfen. Als ich vor über 10 Jahren zum ersten Mal ans LSI kam,
stand gerade mein erster Forschungsaufenthalt in Israel und den palästinensischen
Gebieten kurz bevor. Dass ich seitdem mein Arabisch sträflich vernachlässigt
habe, liegt in jedem Fall nicht
an dem hervorragendem Unterricht am LSI, sondern an meiner Unfähigkeit, dieser
wunderbaren Sprache Herr zu werden. Aber es war ein Tor für die Beschäftigung
mit einer Region, zu der ich vorher kaum Zugang hatte und die mich seitdem und
bis heute vor allem aus der Perspektive der Fotografie interessiert.
Das LSI ist ein Ort der
Sprachen, ein Ort, an dem exemplarisch Völkerverständigung über das Medium
Sprache zelebriert wird. Wenn Fremdsprachen erlernt werden, können sie als Brücke
dienen, als ein Medium zur Verständigung. Wer miteinander kommuniziert, der ist
schon einen großen Schritt weiter, Begegnung zuzulassen und Grenzen abzubauen.
Für viele von Ihnen, da bin ich sicher, war das Arabisch Lernen am LSI ein
Eingangstor in eben jene Welt, über die viele vorher nur ein Bild im Kopf
hatten, die sie aber nicht aus eigener Anschauung kannten. Mit den hier
erlernten oder vertieften Fähig- und Fertigkeiten öffneten sich Türen,
erschlossen sich neue Welten.
Ich erzähle ihnen all dies,
weil ich glaube, dass Bilder eine ähnliche Funktion haben können. Auch Bilder können
eine Brücke sein. Sie dienen als Erinnerung aber genauso als Gesprächsanlaß,
wenn gemeinsam Bilder von Familie und Freunden betrachtet werden. Und Bilder können
die Primärerfahrung ersetzen, vor allem dann, wenn sie spannend erzählen und
achtsam mit ihren Protagonisten umgehen.
Geschichten zu erzählen gibt es überall, man muß nur danach suchen; auch
dabei hilft natürlich die Sprachkenntnis, auch wenn sie nicht immer die
alleinige Vorraussetzung ist. So ist gerade die Kombination aus lokaler
Sprachkenntnis in Zusammenhang mit der erzählerischen Kraft der Fotografie ein
spannendes Feld.
Das Medium Fotografie ist
eine universale Sprache. Der Potsdamer Medienwissenschaftler Arthur Engelbert
(2011) spricht von fotografischen Bildern auch als „global images“. Vor allem
die Digitalisierung der Fotografie hat der Fotografie zu einem globalen
Siegeszug verholfen. Auch wenn Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen
sich zwischen den Ländern und Kulturen verändern, bleibt das Erkennen
grundlegender Formen doch immer das gleiche. Dies ist einer der zentralen Gründe
für die globale Ausbreitung der Fotografie. Egal, ob als professioneller
Fotograf einer internationalen Nachrichtenagentur oder als Handynutzer, der
seine Bilder um die Welt schicken will, es ist diese Universalität, die das
Besondere visueller Kommunikation ausmacht.
Mein heutiger Vortrag steht
unter dem Titel „Nähe und Distanz“ und versucht, mit den Komplexen Naher Osten
und Arabische Welt sowie Fotografie zwei umfangreiche Themenstellungen oder
besser Schlagworte miteinander zu verbinden. Nähe und Distanz können
geografische Größen sein, es sind aber auch Beschreibungen für gefühlte Abstände
zu anderen. Ich denke, Nähe entsteht durch Begegnung, durch Wissen und durch Anteilnahme, Distanz dagegen
durch Ablehnung, Unwissen und Unverständnis sowie Angst. Um Distanz zu überwinden
und Nähe zu schaffen, kann die Sprache als Mittel der Kommunikation ein Medium
sein, ebenso wie es auch für das fotografische Bild gilt.
Sehr geehrte Damen und
Herren,
wie sie sehen, halte ich
einen Vortrag über das Verhältnis der Fotografie und der arabischen Welt, ohne
dass sie im Hintergrund eine Präsentation sehen, eine Powerpointfolie die
andere jagt und Bilder vorbeisurren. Auf der einen Seite könnte dies angesichts
der allgegenwärtigen Bilderflut und dem Visualisierungszwang schon fast als
widerständiges Handeln ausgelegt werden. Auf der anderen Seite bin ich jedoch
sicher, dass jeder und jede von ihnen genug Bilder im Kopf haben, an die sie in
den nächsten 20 Minuten andocken können. Ich denke, dass es reicht, Namen wie
Aylan Kurdi, Muammar Gaddafi, Saddam Hussein, Neda Agha Soltan oder Stichwörter
wie den Fall der Saddamstatue in Baghdad, das Mission Accomplished, Tahrir
Square zu nennen, um diese Bilder abzurufen.
Die Länder des Nahen Ostens
und der arabischen Welt sind aus den alltäglichen Nachrichten zurzeit kaum
wegzudenken. Eine zentrale Rolle in der Kommunikation spielen Bilder, die
sowohl von professionellen Fotojournalisten wie auch zunehmend von Amateuren
angefertigt werden. Fotografische Bilder spielen in der massenmedialen
Kommunikation deswegen eine so große Rolle, da – mit Ausnahme der hier
versammelten – viele Menschen die Regionen des Nahen Ostens nie mit eigenen
Augen gesehen haben. Die Fotografie kann den Menschen ein Bild davon
vermitteln, wie es in der Region aussieht. Dies gilt nicht nur für
nachrichtenrelevante Themen, sondern auch das Alltagsleben in anderen
Weltregionen. Dass dies immer nur selektiv und bezogen auf bestimmte Themen und
Ereignisse geschehen kann, versteht sich dabei natürlich von selbst.
Dabei gab es noch nie eine
Zeit, in der so viele Bilder zirkulierten wie heute. Gleichzeitig waren auch
noch nie so viele banale Bilder im Umlauf. Die Globalisierung und vor allem die
Digitalisierung der Kommunikationstechnologie ermöglichen uns, die Welt ins
Wohnzimmer zu holen. Über die sozialen Medien verbreiten sich Bilder in
Sekundenschnelle über die ganze Welt, ohne dass es eine Chance gäbe sie
einzuhegen, sie in Ruhe zu kontextualisieren. Bilder gelangen über Facebook und
Twitter ohne den Umweg der Massenmedien direkt zu den Konsumenten. Das ist
Fluch und Segen zugleich. Damit wird es immer schwerer, sich in der Bilderflut
zu orientieren, abzuwägen und es gibt vermeintlich wenig, was der Bilderflut
und der digitalen Schnelligkeit und Beliebigkeit entgegen zu setzen wäre, außer
den Stecker zu ziehen.
Unser Blick auf die
arabische Welt ist bis heute vor allem von tagesaktuellen Nachrichtenbildern
geprägt. Wie so oft in der journalistischen Berichterstattung dominieren dabei
politische und soziale Krisen, so dass der Alltag in den Hintergrund gerät. So
ist es schwer, von unserem Bild der arabischen Welt zu sprechen. Es ist eines
von unzähligen Bildern, verzerrt aufgrund der Dynamiken massenmedialer Berichterstattung
und oft reduziert auf eine vereinfachte Schwarz-Weiß Dichotomie. Wir als
Konsumenten, ebenso wie die Bildredaktionen der Massenmedien sind konfrontiert
mit Handybildern und -videos aus
der syrischen Revolution und dem arabischen Frühling sowie Propagandavideos des
Islamischen Staates.
Die Bilder von der Zerstörung
antiker Stätten im Zweistromland durch den Islamischen Staat erscheinen dabei
als Zeugnisse eines vermeintlichen Ikonolasmus des Islam. Dabei haben diese
Akte wenig mit dem Islam als Ganzem zu tun und zeigen vor allem eine grandiose
Geschichtsblindheit der Ausführenden, da hier die Wurzeln der
arabisch-islamischen Kultur zerstört werden. Aber leider kommen die
Bildbotschaften an, entfalten ihre Wirkung bei uns und färben ab auf das Bild
des Islam. Dabei, so Asiem el Difraoui und Antonia Blau in einem kürzlich erschienenen Artikel bei
Qantara, ist der Islam in Wirklichkeit keine anti-ikonische Religion. Er hat
nur seine eigenen Ausdrucksformen gefunden, die abweichen von christlich-jüdischen
Bildtraditionen, wie wir sie in Europa kennen.
Und wer einen Beweis für den
demokratischen Gebrauch von Bildern in der islamisch-arabischen Welt im 21.
Jahrhundert brauchte, der konnte dies wunderbar beim arabischen Frühling in
Kairo beobachten. Hier waren es die protestierenden Bürger Ägyptents, die
Bilder als Mittel des Widerstands nutzten. Die von Florian Ebner kuratierte
Ausstellung „Cairo Open City“, die auch ganz hier in der Nähe im Essener
Folkwang Museum zu sehen war, hat dies eindrücklich dokumentiert. Auch bei den
Freitagsprotesten in den palästinensischen Gebieten lässt sich dies Woche für
Woche beobachten, wenn Aktivisten ihren Widerstand und dessen brutale
Niederschlagung durch die israelische Besatzungsmacht dokumentieren.
Trotz allem dominieren
Bilder des Krieges, haben sich die Horrorbilder des IS in den Köpfen vieler
festgesetzt, weil sie unreflektiert von den westlichen Medien verbreitet
werden. Denn nur zu gut passen sie in die tradierten Feindbilder über den Islam
und die arabische Welt, die sich auf gefährliche Weise mit geopolitischen
Interessen mischen. So reden viele schon den Krieg der Bilder herbei, der das
eigentliche Kampfgeschehen begleite, wenn nicht gar ersetze. Aber es ist
wichtig, trotz der Grausamkeit der Bilder, welche vom IS verbreitet werden,
nicht in die Rhetorik eines Bilderkrieges zu verfallen. Denn diese Rhetorik ist
problematisch, da sie zum Ziel hat, Bildakte als Rechtfertigung für militärisches
Handeln zu nehmen. Die Entscheidung für und gegen militärisches, ebenso wie
ziviles Handeln, sollte jedoch nicht von propagandistischen Bildern, sondern
von politischen Fakten und humanitärer Notwendigkeit abhängig gemacht werden.
Wichtig ist, den zivilen Charakter von Bildern hervorzuheben und nach Wegen zu suchen um zu verhindern,
dass Bilder als Rechtfertigung von Gewalt genutzt werden.
„Entwürdigend ist auch nicht
das Foto der Tat, sondern die Tat selbst“ schrieb die Journalistin Evelyn Finger im vergangenen Herbst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Reaktion auf die
Verbreitung der Bilder, welche die Ermordung des amerikanischen Journalisten
James Foley in Syrien zeigte. Und ihr Kollege Daniel Etter, ein Freund Foleys,
wünschte sich ein Umdenken in den Medien, um diese Bilder nicht mehr zu
verbreiten. Es geht um einen reflektierten Umgang mit Bildern, der auch das
Nicht-Zeigen beinhaltet. Dazu passt, wofür der Nahostkorrespondent Karim
El-Gawhary auf Qantara plädierte: Den Blick zu öffnen und vom Islamischen Staat
abzuwenden. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Rhetorik der Bilder:
Nicht die propagandistischen Bilder des IS und anderer Terrorgruppen sollten im
Vordergrund stehen, sondern eine Vielfalt journalistischer Bilder, die der
Komplexität der Konfliktlagen in der Region gerecht werden können und die von lokalen
und internationalen Fotografen mit ganz unterschiedlichen Bildtraditionen
hergestellt werden sollten.
Denn im massenmedialen Fokus
auf Krieg und Gewalt gerät schnell in den Hintergrund, dass es auch in der
Region eine spannende Tradition fotografischer Arbeit gibt. Leider finden diese
Bilder nur selten den Zugang zur breiten Öffentlichkeit und sind stattdessen
auf Fotografiefestivals oder bei Ausstellungen auf die Region spezialisierter
Galerien zu sehen. Die Vielfalt visueller Ausdrucksformen kann man hervorragend
in dem von Rose Issa zusammengestellten Sammelband „Arab Photography Now“
bewundern. Auch wenn der Begriff der „Arab Photography“ etwas irreführend ist,
gibt es doch nicht DIE arabische Fotografie. Spannend ist es an dieser Stelle,
den Blick auf andere visuelle Disziplinen zu richten, vor allem um das Phänomen
Fotografie und Arabische Welt begrifflich eingrenzen zu können. So spricht man
im Französischen interessanterweise von „les cinémas arabes“, was nicht etwas
arabische Kinos bedeutet, sonder als Plural cineastischer Produktion fungieren
soll.
Einen großartigen Einblick
in die Fotografie aus der arabischen Welt konnte man diesen Sommer auch auf der
Biennale in Venedig bekommen. Dort widmete sich beispielsweise der von der Ruya Foundation kuratierte irakische Pavillon zu einem Großteil der Fotografie. Gezeigt wurden zwei Positionen, die
sowohl inhaltlich als auch gestalterisch nicht unterschiedlicher sein könnten.
Zum einen waren die Arbeiten des Gründervaters der irakischen Fotografie, Latif
Al Ani, zu sehen, der lange Zeit für die Iraq Petroleum Company arbeitete.
Seine wichtigste Schaffenszeit war in den 1960er und 1970er Jahren, als das
Land relativen Wohlstand und Entwicklung genoß, wie es sich aus Anis Bildern
ablesen lässt. Viele Kriege und Regimewechsel später lenkt der junge Fotograf
Akam Shex Hady in inszenierten Bildern den Blick auf die Opfer des IS.
Ein weiteres gutes Beispiel
einer anderen fotografischen Beschäftigung mit der arabischen Welt sind die
Arbeiten des Berliner Fotografen Kai Wiedenhöfer. Er ist unser Augenzeuge,
reist als fotografischer Hintergrundreporter seit vielen Jahren immer wieder in
den Nahen Osten und produziert dabei ganz unterschiedliche visuelle Arbeiten.
Auf eine gewisse Art und Weise laufen die Arbeiten Wiedenhöfers dem vorher
skizzierten Zeitgeist entgegen. Sie halten der schnelllebigen, digitalisierten
Welt den Spiegel entgegen. Sie haben eine andere Geschwindigkeit und brauchen
auch einen anderen Raum der Betrachtung. Wiedenhöfers Bilder sind nicht für die
sozialen Medien des Internets gemacht, sie funktionieren vor allem in Magazinen
und an der Wand. So kommt es nicht von ungefähr, dass viele seiner Bilder nicht
im Netz zu finden sind. Sie brauchen eine gewisse Größe und sie brauchen einen
Betrachter, der sich auf sie einlässt.
Es war Anfang der 1990er
Jahre, als Kai Wiedenhöfer zum ersten Mal nach Israel und in die besetzten palästinensischen
Gebiete reiste. Damals fotografierte er noch klassisch auf Filmrollen. Es gab
noch keine Mauer und er hatte als Ausländer trotz Checkpoints das Privileg,
sich mit seinem Motorrad relativ frei zwischen den Regionen bewegen zu können.
Vor allem im Gazastreifen kannten alle den Deutschen auf seinem Motorrad. „Habib
Al-Schaab“ – Freund der Menschen – wurde er genannt und ein junger Mann sagte
ihm „You are more famous in Gaza than Michael Jackson“.
Heute hat das israelische
Kontrollregime jegliche Form der Mobilität zunichte gemacht. Der
Friedensprozess ist tot, Gaza ist das größte Gefängnis der Welt und die
Aussicht auf einen palästinensischen Staat in weite Ferne gerückt. In der
vergangenen Woche erst hat Mahmud Abbas,
der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, aus Frust über den
politischen Stillstand in der Region angekündigt, dass die PA sich nicht mehr
an die Verträge von Oslo gebunden sieht. Die Zeit vor und nach Oslo waren das
erste wichtige Thema Wiedenhöfers in der Region, wie es sich eindrucksvoll in
seinem ersten Fotobuch „Perfect Peace“ nachvollziehen lässt, das wie alle
weiteren im Göttinger Steidl Verlag erschienen ist. Geradezu prophetisch
klingen die Worte im Nachwort, die ihn schon damals als Oslo-Skeptiker
ausweisen:
„The Palestinians put great hope in peace, but I fear their hopes will
never be fulfilled. I’m reporting on the implementation of a treaty of which I’m
convinced that it will fail. It does not include an end to the occupation, but
only provides a new label – autonomy. From the beginning it appears very
unlikely that the questions of settlement construction, Jerusalem and the
refugee problems will be solved. The media in the West chear the treaty, but it
is a „Versailles of the Middle East“.
Kai Wiedenhöfer schaffte es
auch deswegen so nah an die Menschen der Region zu kommen, weil er sich Zeit
nahm und ihre Sprache lernte. Dabei war die syrische Hauptstadt Damaskus für
Wiedenhöfer, wie für so viele andere Menschen aus der ganzen Welt, das
Einstiegstor zur arabischen Welt und eben vor allem zum Arabischen. Für viele
Jahre war die Stadt das Mekka für Sprachschüler. Über sein Verhältnis zu Syrien
und Damaskus erzählte er mir bei einem Gespräch für das Onlinemagazin Qantara
im Juni diesen Jahres:
„Ich habe von
1991 bis 1993 in Syrien Arabisch studiert. Seit dieser Zeit habe ich eine gute
Kenntnis des Landes und ich mag die Leute dort sehr. Für mich ist die
Gesellschaft in Syrien die modernste Zivilgesellschaft, die man im Nahen Osten
findet, noch stärker als die Palästinenser, bei denen ich sehr viel Zeit
verbracht habe“.
Aufgrund der relativen
Freiheit in der Stadt verschloß man dabei die Augen vor den Machenschaften des
Assad-Regimes. Heute versinkt das Land im Bürgerkrieg und die Welt verschließt
die Augen nicht mehr vor den Machenschaften des Regimes, sondern vor allem vor
den Opfern des Krieges. Zumindest
galt dies bis zum Sommer diesen Jahres, bevor Zehntausende Syrer an die Türen
Europas klopften. Selten bekamen sie vorher in den deutschen Medien ein Gesicht
und eine Stimme. Genau dies hat Wiedenhöfer mit „Fourty out of One Million“,
seiner letzten Arbeit getan: Er hat 40 Opfern des syrischen Bürgerkriegs eine
Stimme gegeben und er zeigt die Folgen des Kriegs für den urbanen Raum anhand
von Aufnahmen aus Kobane.
Es sind die Bilder der
Ausstellung, die wir gleich eröffnen werden und die ich hier würdigen will.
Einige von Ihnen haben sicherlich schon einen ersten Blick auf sie geworfen. Es
sind erschreckende Bilder der Zerstörung und des menschlichen Leids, die
zugleich voll von Würde und Achtsamkeit sind. Wiedenhöfer führt die syrischen
Opfer nicht vor, er gibt ihnen die Möglichkeit sich zu zeigen und von ihrem
Leid zu erzählen. Trotz allem sind sie nicht einfach zu ertragen, zwingen sie
uns hinzuschauen und uns mit ihnen zu beschäftigen. Im schon erwähnten
Interview aus diesem Sommer, führte Wiedenhöfer aus, warum es so wichtig ist,
diese Bilder in Deutschland zu zeigen:
„Ich erinnere mich noch, wie das als Kind in den 1970er Jahren in
Deutschland war. Man sah viele Leute, die Lederbehandschuhte Hände und
Prothesen trugen oder mit Krücken herumliefen. Das ist heute alles aus der Öffentlichkeit
verschwunden, weil die Leute mittlerweile alle verstorben sind. Und deswegen
ist der Krieg bei uns einfach nicht mehr präsent. Deswegen war es mir wichtig,
mit dem Projekt eine visuelle Präsenz des Krieges zu schaffen“.
Ich denke, man kann mit Fug
und Recht sagen, dass Kai Wiedenhöfer dies gelungen ist. Gleichzeitig wirft
dies viele Fragen für den Umgang in den westlichen Gesellschaften mit Krieg und
Gewalt auf. Es zeigt, wie innerhalb von zwei Generationen nicht nur die
sichtbaren Folgen von Krieg und Gewalt aus dem Blickfeld verschwinden, sondern
auch wie die Erinnerung sich ändert, wenn die Sekundärerfahrung die Primärerfahrung
ersetzt. Auf der einen Seite macht es Hoffnung für Länder wie Syrien und den
Irak, dass auch dort die Errichtung einer friedlichen Nachkriegsgesellschaft möglich
ist. Auf der anderen Seite wirft es die Frage auf, welche Bilder aus den
Regionen wir sehen wollen, welche wir uns zumuten.
Wiedenhöfers
Dokumentarfotografie ist nicht nur ein Appell an die Menschlichkeit zu handeln
und sich dem Leid zu stellen, sondern die Arbeit selbst steht beispielhaft für
menschliches Handeln. Damit steht seine Arbeit in der Tradition am Humanismus
orientierter Dokumentarfotografie. In der schnelllebigen Zeit des Web 2.0 ist
dies ein wichtiges Zeichen. Trotz allem geht es nicht um ein entweder oder.
Wichtig ist, das Ensemble der Bilder zu betrachten. Wir brauchen tagesaktuelle,
aufrüttelnde Nachrichtenbilder wie das des syrischen Kindes Aylan Kurdi ebenso
wie die Handyfotos von Aktivisten und Amateuren aus Syrien oder dem Irak und
eben die langsamen, tiefergehenden Bildrecherchen wie von Kai Wiedenhöfer.
Gefragt ist letzten Endes
jedoch immer der Betrachter, also alle, die wir hier im Saal sitzen. Mit
unserem Medienkonsum haben wir einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. Es
liegt an uns, ob wir uns von Bildern berühren lassen und ob sich eine
demokratische Bildkultur entwickelt, in der propagandistische Bild-Botschaften
keinen Raum finden. Die israelische Fotografiekritikerin Ariella Azoulay plädiert
für einen „Civil Contract of Photography“, einer Art Bürgervertrag zwischen
Fotograf, Fotografiertem und Betrachter. Damit liegt es an uns, ob sich das
demokratische und humanistische Potential der Fotografie entfalten kann oder
nicht.
Herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen