Montag, 12. Oktober 2015

Zwischen Nähe und Distanz



  Am Mittwoch den 7. Oktober 2015 war ich eingeladen, anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Arabicums am Landesspracheninstitut (LSI) der Ruhr-Universität Bochum einen Kurzvortrag über den fotografischen Umgang mit den Nahen Osten zu halten und in die Arbeit des Fotografen Kai Wiedenhöfer einzuführen, dessen Ausstellung „40 ouf of One Millon“ an diesem Abend eröffnet wurde. Hier der folgt der vollständige Text meiner Rede.


Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Frau Kleinhaus, lieber Herr Waschik,

ich freue mich sehr, heute hier zu sein und mit ihnen das 30-jährige Jubiläum des Arabicum zu begehen und bedanke mich an dieser Stelle schon ein Mal ganz herzlich für die Einladung, hier sprechen zu dürfen. Als ich vor über 10 Jahren zum ersten Mal ans LSI kam, stand gerade mein erster Forschungsaufenthalt in Israel und den palästinensischen Gebieten kurz bevor. Dass ich seitdem mein Arabisch sträflich vernachlässigt habe, liegt in jedem Fall nicht an dem hervorragendem Unterricht am LSI, sondern an meiner Unfähigkeit, dieser wunderbaren Sprache Herr zu werden. Aber es war ein Tor für die Beschäftigung mit einer Region, zu der ich vorher kaum Zugang hatte und die mich seitdem und bis heute vor allem aus der Perspektive der Fotografie interessiert.

Das LSI ist ein Ort der Sprachen, ein Ort, an dem exemplarisch Völkerverständigung über das Medium Sprache zelebriert wird. Wenn Fremdsprachen erlernt werden, können sie als Brücke dienen, als ein Medium zur Verständigung. Wer miteinander kommuniziert, der ist schon einen großen Schritt weiter, Begegnung zuzulassen und Grenzen abzubauen. Für viele von Ihnen, da bin ich sicher, war das Arabisch Lernen am LSI ein Eingangstor in eben jene Welt, über die viele vorher nur ein Bild im Kopf hatten, die sie aber nicht aus eigener Anschauung kannten. Mit den hier erlernten oder vertieften Fähig- und Fertigkeiten öffneten sich Türen, erschlossen sich neue Welten.

Ich erzähle ihnen all dies, weil ich glaube, dass Bilder eine ähnliche Funktion haben können. Auch Bilder können eine Brücke sein. Sie dienen als Erinnerung aber genauso als Gesprächsanlaß, wenn gemeinsam Bilder von Familie und Freunden betrachtet werden. Und Bilder können die Primärerfahrung ersetzen, vor allem dann, wenn sie spannend erzählen und achtsam mit ihren Protagonisten umgehen.  Geschichten zu erzählen gibt es überall, man muß nur danach suchen; auch dabei hilft natürlich die Sprachkenntnis, auch wenn sie nicht immer die alleinige Vorraussetzung ist. So ist gerade die Kombination aus lokaler Sprachkenntnis in Zusammenhang mit der erzählerischen Kraft der Fotografie ein spannendes Feld.

Das Medium Fotografie ist eine universale Sprache. Der Potsdamer Medienwissenschaftler Arthur Engelbert (2011) spricht von fotografischen Bildern auch als „global images“. Vor allem die Digitalisierung der Fotografie hat der Fotografie zu einem globalen Siegeszug verholfen. Auch wenn Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen sich zwischen den Ländern und Kulturen verändern, bleibt das Erkennen grundlegender Formen doch immer das gleiche. Dies ist einer der zentralen Gründe für die globale Ausbreitung der Fotografie. Egal, ob als professioneller Fotograf einer internationalen Nachrichtenagentur oder als Handynutzer, der seine Bilder um die Welt schicken will, es ist diese Universalität, die das Besondere visueller Kommunikation ausmacht.

Mein heutiger Vortrag steht unter dem Titel „Nähe und Distanz“ und versucht, mit den Komplexen Naher Osten und Arabische Welt sowie Fotografie zwei umfangreiche Themenstellungen oder besser Schlagworte miteinander zu verbinden. Nähe und Distanz können geografische Größen sein, es sind aber auch Beschreibungen für gefühlte Abstände zu anderen. Ich denke, Nähe entsteht durch Begegnung, durch Wissen und  durch Anteilnahme, Distanz dagegen durch Ablehnung, Unwissen und Unverständnis sowie Angst. Um Distanz zu überwinden und Nähe zu schaffen, kann die Sprache als Mittel der Kommunikation ein Medium sein, ebenso wie es auch für das fotografische Bild gilt.


Sehr geehrte Damen und Herren,

wie sie sehen, halte ich einen Vortrag über das Verhältnis der Fotografie und der arabischen Welt, ohne dass sie im Hintergrund eine Präsentation sehen, eine Powerpointfolie die andere jagt und Bilder vorbeisurren. Auf der einen Seite könnte dies angesichts der allgegenwärtigen Bilderflut und dem Visualisierungszwang schon fast als widerständiges Handeln ausgelegt werden. Auf der anderen Seite bin ich jedoch sicher, dass jeder und jede von ihnen genug Bilder im Kopf haben, an die sie in den nächsten 20 Minuten andocken können. Ich denke, dass es reicht, Namen wie Aylan Kurdi, Muammar Gaddafi, Saddam Hussein, Neda Agha Soltan oder Stichwörter wie den Fall der Saddamstatue in Baghdad, das Mission Accomplished, Tahrir Square zu nennen, um diese Bilder abzurufen.

Die Länder des Nahen Ostens und der arabischen Welt sind aus den alltäglichen Nachrichten zurzeit kaum wegzudenken. Eine zentrale Rolle in der Kommunikation spielen Bilder, die sowohl von professionellen Fotojournalisten wie auch zunehmend von Amateuren angefertigt werden. Fotografische Bilder spielen in der massenmedialen Kommunikation deswegen eine so große Rolle, da – mit Ausnahme der hier versammelten – viele Menschen die Regionen des Nahen Ostens nie mit eigenen Augen gesehen haben. Die Fotografie kann den Menschen ein Bild davon vermitteln, wie es in der Region aussieht. Dies gilt nicht nur für nachrichtenrelevante Themen, sondern auch das Alltagsleben in anderen Weltregionen. Dass dies immer nur selektiv und bezogen auf bestimmte Themen und Ereignisse geschehen kann, versteht sich dabei natürlich von selbst.

Dabei gab es noch nie eine Zeit, in der so viele Bilder zirkulierten wie heute. Gleichzeitig waren auch noch nie so viele banale Bilder im Umlauf. Die Globalisierung und vor allem die Digitalisierung der Kommunikationstechnologie ermöglichen uns, die Welt ins Wohnzimmer zu holen. Über die sozialen Medien verbreiten sich Bilder in Sekundenschnelle über die ganze Welt, ohne dass es eine Chance gäbe sie einzuhegen, sie in Ruhe zu kontextualisieren. Bilder gelangen über Facebook und Twitter ohne den Umweg der Massenmedien direkt zu den Konsumenten. Das ist Fluch und Segen zugleich. Damit wird es immer schwerer, sich in der Bilderflut zu orientieren, abzuwägen und es gibt vermeintlich wenig, was der Bilderflut und der digitalen Schnelligkeit und Beliebigkeit entgegen zu setzen wäre, außer den Stecker zu ziehen.

Unser Blick auf die arabische Welt ist bis heute vor allem von tagesaktuellen Nachrichtenbildern geprägt. Wie so oft in der journalistischen Berichterstattung dominieren dabei politische und soziale Krisen, so dass der Alltag in den Hintergrund gerät. So ist es schwer, von unserem Bild der arabischen Welt zu sprechen. Es ist eines von unzähligen Bildern, verzerrt aufgrund der Dynamiken massenmedialer Berichterstattung und oft reduziert auf eine vereinfachte Schwarz-Weiß Dichotomie. Wir als Konsumenten, ebenso wie die Bildredaktionen der Massenmedien sind konfrontiert mit  Handybildern und -videos aus der syrischen Revolution und dem arabischen Frühling sowie Propagandavideos des Islamischen Staates.

Die Bilder von der Zerstörung antiker Stätten im Zweistromland durch den Islamischen Staat erscheinen dabei als Zeugnisse eines vermeintlichen Ikonolasmus des Islam. Dabei haben diese Akte wenig mit dem Islam als Ganzem zu tun und zeigen vor allem eine grandiose Geschichtsblindheit der Ausführenden, da hier die Wurzeln der arabisch-islamischen Kultur zerstört werden. Aber leider kommen die Bildbotschaften an, entfalten ihre Wirkung bei uns und färben ab auf das Bild des Islam. Dabei, so Asiem el Difraoui und  Antonia Blau in einem kürzlich erschienenen Artikel bei Qantara, ist der Islam in Wirklichkeit keine anti-ikonische Religion. Er hat nur seine eigenen Ausdrucksformen gefunden, die abweichen von christlich-jüdischen Bildtraditionen, wie wir sie in Europa kennen.

Und wer einen Beweis für den demokratischen Gebrauch von Bildern in der islamisch-arabischen Welt im 21. Jahrhundert brauchte, der konnte dies wunderbar beim arabischen Frühling in Kairo beobachten. Hier waren es die protestierenden Bürger Ägyptents, die Bilder als Mittel des Widerstands nutzten. Die von Florian Ebner kuratierte Ausstellung „Cairo Open City“, die auch ganz hier in der Nähe im Essener Folkwang Museum zu sehen war, hat dies eindrücklich dokumentiert. Auch bei den Freitagsprotesten in den palästinensischen Gebieten lässt sich dies Woche für Woche beobachten, wenn Aktivisten ihren Widerstand und dessen brutale Niederschlagung durch die israelische Besatzungsmacht dokumentieren.

Trotz allem dominieren Bilder des Krieges, haben sich die Horrorbilder des IS in den Köpfen vieler festgesetzt, weil sie unreflektiert von den westlichen Medien verbreitet werden. Denn nur zu gut passen sie in die tradierten Feindbilder über den Islam und die arabische Welt, die sich auf gefährliche Weise mit geopolitischen Interessen mischen. So reden viele schon den Krieg der Bilder herbei, der das eigentliche Kampfgeschehen begleite, wenn nicht gar ersetze. Aber es ist wichtig, trotz der Grausamkeit der Bilder, welche vom IS verbreitet werden, nicht in die Rhetorik eines Bilderkrieges zu verfallen. Denn diese Rhetorik ist problematisch, da sie zum Ziel hat, Bildakte als Rechtfertigung für militärisches Handeln zu nehmen. Die Entscheidung für und gegen militärisches, ebenso wie ziviles Handeln, sollte jedoch nicht von propagandistischen Bildern, sondern von politischen Fakten und humanitärer Notwendigkeit abhängig gemacht werden. Wichtig ist, den zivilen Charakter von Bildern hervorzuheben und  nach Wegen zu suchen um zu verhindern, dass Bilder als Rechtfertigung von Gewalt genutzt werden.

„Entwürdigend ist auch nicht das Foto der Tat, sondern die Tat selbst“ schrieb die Journalistin Evelyn Finger im vergangenen Herbst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Reaktion auf die Verbreitung der Bilder, welche die Ermordung des amerikanischen Journalisten James Foley in Syrien zeigte. Und ihr Kollege Daniel Etter, ein Freund Foleys, wünschte sich ein Umdenken in den Medien, um diese Bilder nicht mehr zu verbreiten. Es geht um einen reflektierten Umgang mit Bildern, der auch das Nicht-Zeigen beinhaltet. Dazu passt, wofür der Nahostkorrespondent Karim El-Gawhary auf Qantara plädierte: Den Blick zu öffnen und vom Islamischen Staat abzuwenden. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Rhetorik der Bilder: Nicht die propagandistischen Bilder des IS und anderer Terrorgruppen sollten im Vordergrund stehen, sondern eine Vielfalt journalistischer Bilder, die der Komplexität der Konfliktlagen in der Region gerecht werden können und die von lokalen und internationalen Fotografen mit ganz unterschiedlichen Bildtraditionen hergestellt werden sollten.

Denn im massenmedialen Fokus auf Krieg und Gewalt gerät schnell in den Hintergrund, dass es auch in der Region eine spannende Tradition fotografischer Arbeit gibt. Leider finden diese Bilder nur selten den Zugang zur breiten Öffentlichkeit und sind stattdessen auf Fotografiefestivals oder bei Ausstellungen auf die Region spezialisierter Galerien zu sehen. Die Vielfalt visueller Ausdrucksformen kann man hervorragend in dem von Rose Issa zusammengestellten Sammelband „Arab Photography Now“ bewundern. Auch wenn der Begriff der „Arab Photography“ etwas irreführend ist, gibt es doch nicht DIE arabische Fotografie. Spannend ist es an dieser Stelle, den Blick auf andere visuelle Disziplinen zu richten, vor allem um das Phänomen Fotografie und Arabische Welt begrifflich eingrenzen zu können. So spricht man im Französischen interessanterweise von „les cinémas arabes“, was nicht etwas arabische Kinos bedeutet, sonder als Plural cineastischer Produktion fungieren soll.

Einen großartigen Einblick in die Fotografie aus der arabischen Welt konnte man diesen Sommer auch auf der Biennale in Venedig bekommen. Dort widmete sich beispielsweise der von der Ruya Foundation kuratierte irakische Pavillon zu einem Großteil der Fotografie. Gezeigt wurden zwei Positionen, die sowohl inhaltlich als auch gestalterisch nicht unterschiedlicher sein könnten. Zum einen waren die Arbeiten des Gründervaters der irakischen Fotografie, Latif Al Ani, zu sehen, der lange Zeit für die Iraq Petroleum Company arbeitete. Seine wichtigste Schaffenszeit war in den 1960er und 1970er Jahren, als das Land relativen Wohlstand und Entwicklung genoß, wie es sich aus Anis Bildern ablesen lässt. Viele Kriege und Regimewechsel später lenkt der junge Fotograf Akam Shex Hady in inszenierten Bildern den Blick auf die Opfer des IS.



Ein weiteres gutes Beispiel einer anderen fotografischen Beschäftigung mit der arabischen Welt sind die Arbeiten des Berliner Fotografen Kai Wiedenhöfer. Er ist unser Augenzeuge, reist als fotografischer Hintergrundreporter seit vielen Jahren immer wieder in den Nahen Osten und produziert dabei ganz unterschiedliche visuelle Arbeiten. Auf eine gewisse Art und Weise laufen die Arbeiten Wiedenhöfers dem vorher skizzierten Zeitgeist entgegen. Sie halten der schnelllebigen, digitalisierten Welt den Spiegel entgegen. Sie haben eine andere Geschwindigkeit und brauchen auch einen anderen Raum der Betrachtung. Wiedenhöfers Bilder sind nicht für die sozialen Medien des Internets gemacht, sie funktionieren vor allem in Magazinen und an der Wand. So kommt es nicht von ungefähr, dass viele seiner Bilder nicht im Netz zu finden sind. Sie brauchen eine gewisse Größe und sie brauchen einen Betrachter, der sich auf sie einlässt.

Es war Anfang der 1990er Jahre, als Kai Wiedenhöfer zum ersten Mal nach Israel und in die besetzten palästinensischen Gebiete reiste. Damals fotografierte er noch klassisch auf Filmrollen. Es gab noch keine Mauer und er hatte als Ausländer trotz Checkpoints das Privileg, sich mit seinem Motorrad relativ frei zwischen den Regionen bewegen zu können. Vor allem im Gazastreifen kannten alle den Deutschen auf seinem Motorrad. „Habib Al-Schaab“ – Freund der Menschen – wurde er genannt und ein junger Mann sagte ihm „You are more famous in Gaza than Michael Jackson“.

Heute hat das israelische Kontrollregime jegliche Form der Mobilität zunichte gemacht. Der Friedensprozess ist tot, Gaza ist das größte Gefängnis der Welt und die Aussicht auf einen palästinensischen Staat in weite Ferne gerückt. In der vergangenen Woche erst hat Mahmud Abbas,  der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, aus Frust über den politischen Stillstand in der Region angekündigt, dass die PA sich nicht mehr an die Verträge von Oslo gebunden sieht. Die Zeit vor und nach Oslo waren das erste wichtige Thema Wiedenhöfers in der Region, wie es sich eindrucksvoll in seinem ersten Fotobuch „Perfect Peace“ nachvollziehen lässt, das wie alle weiteren im Göttinger Steidl Verlag erschienen ist. Geradezu prophetisch klingen die Worte im Nachwort, die ihn schon damals als Oslo-Skeptiker ausweisen:

The Palestinians put great hope in peace, but I fear their hopes will never be fulfilled. I’m reporting on the implementation of a treaty of which I’m convinced that it will fail. It does not include an end to the occupation, but only provides a new label – autonomy. From the beginning it appears very unlikely that the questions of settlement construction, Jerusalem and the refugee problems will be solved. The media in the West chear the treaty, but it is a „Versailles of the Middle East“.

Kai Wiedenhöfer schaffte es auch deswegen so nah an die Menschen der Region zu kommen, weil er sich Zeit nahm und ihre Sprache lernte. Dabei war die syrische Hauptstadt Damaskus für Wiedenhöfer, wie für so viele andere Menschen aus der ganzen Welt, das Einstiegstor zur arabischen Welt und eben vor allem zum Arabischen. Für viele Jahre war die Stadt das Mekka für Sprachschüler. Über sein Verhältnis zu Syrien und Damaskus erzählte er mir bei einem Gespräch für das Onlinemagazin Qantara im Juni diesen Jahres:

Ich habe von 1991 bis 1993 in Syrien Arabisch studiert. Seit dieser Zeit habe ich eine gute Kenntnis des Landes und ich mag die Leute dort sehr. Für mich ist die Gesellschaft in Syrien die modernste Zivilgesellschaft, die man im Nahen Osten findet, noch stärker als die Palästinenser, bei denen ich sehr viel Zeit verbracht habe“.

Aufgrund der relativen Freiheit in der Stadt verschloß man dabei die Augen vor den Machenschaften des Assad-Regimes. Heute versinkt das Land im Bürgerkrieg und die Welt verschließt die Augen nicht mehr vor den Machenschaften des Regimes, sondern vor allem vor den Opfern des Krieges.  Zumindest galt dies bis zum Sommer diesen Jahres, bevor Zehntausende Syrer an die Türen Europas klopften. Selten bekamen sie vorher in den deutschen Medien ein Gesicht und eine Stimme. Genau dies hat Wiedenhöfer mit „Fourty out of One Million“, seiner letzten Arbeit getan: Er hat 40 Opfern des syrischen Bürgerkriegs eine Stimme gegeben und er zeigt die Folgen des Kriegs für den urbanen Raum anhand von Aufnahmen aus Kobane.

Es sind die Bilder der Ausstellung, die wir gleich eröffnen werden und die ich hier würdigen will. Einige von Ihnen haben sicherlich schon einen ersten Blick auf sie geworfen. Es sind erschreckende Bilder der Zerstörung und des menschlichen Leids, die zugleich voll von Würde und Achtsamkeit sind. Wiedenhöfer führt die syrischen Opfer nicht vor, er gibt ihnen die Möglichkeit sich zu zeigen und von ihrem Leid zu erzählen. Trotz allem sind sie nicht einfach zu ertragen, zwingen sie uns hinzuschauen und uns mit ihnen zu beschäftigen. Im schon erwähnten Interview aus diesem Sommer, führte Wiedenhöfer aus, warum es so wichtig ist, diese Bilder in Deutschland zu zeigen:

Ich erinnere mich noch, wie das als Kind in den 1970er Jahren in Deutschland war. Man sah viele Leute, die Lederbehandschuhte Hände und Prothesen trugen oder mit Krücken herumliefen. Das ist heute alles aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil die Leute mittlerweile alle verstorben sind. Und deswegen ist der Krieg bei uns einfach nicht mehr präsent. Deswegen war es mir wichtig, mit dem Projekt eine visuelle Präsenz des Krieges zu schaffen“.

Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass Kai Wiedenhöfer dies gelungen ist. Gleichzeitig wirft dies viele Fragen für den Umgang in den westlichen Gesellschaften mit Krieg und Gewalt auf. Es zeigt, wie innerhalb von zwei Generationen nicht nur die sichtbaren Folgen von Krieg und Gewalt aus dem Blickfeld verschwinden, sondern auch wie die Erinnerung sich ändert, wenn die Sekundärerfahrung die Primärerfahrung ersetzt. Auf der einen Seite macht es Hoffnung für Länder wie Syrien und den Irak, dass auch dort die Errichtung einer friedlichen Nachkriegsgesellschaft möglich ist. Auf der anderen Seite wirft es die Frage auf, welche Bilder aus den Regionen wir sehen wollen, welche wir uns zumuten.

Wiedenhöfers Dokumentarfotografie ist nicht nur ein Appell an die Menschlichkeit zu handeln und sich dem Leid zu stellen, sondern die Arbeit selbst steht beispielhaft für menschliches Handeln. Damit steht seine Arbeit in der Tradition am Humanismus orientierter Dokumentarfotografie. In der schnelllebigen Zeit des Web 2.0 ist dies ein wichtiges Zeichen. Trotz allem geht es nicht um ein entweder oder. Wichtig ist, das Ensemble der Bilder zu betrachten. Wir brauchen tagesaktuelle, aufrüttelnde Nachrichtenbilder wie das des syrischen Kindes Aylan Kurdi ebenso wie die Handyfotos von Aktivisten und Amateuren aus Syrien oder dem Irak und eben die langsamen, tiefergehenden Bildrecherchen wie von Kai Wiedenhöfer.

Gefragt ist letzten Endes jedoch immer der Betrachter, also alle, die wir hier im Saal sitzen. Mit unserem Medienkonsum haben wir einen nicht zu unterschätzenden Einfluß. Es liegt an uns, ob wir uns von Bildern berühren lassen und ob sich eine demokratische Bildkultur entwickelt, in der propagandistische Bild-Botschaften keinen Raum finden. Die israelische Fotografiekritikerin Ariella Azoulay plädiert für einen „Civil Contract of Photography“, einer Art Bürgervertrag zwischen Fotograf, Fotografiertem und Betrachter. Damit liegt es an uns, ob sich das demokratische und humanistische Potential der Fotografie entfalten kann oder nicht.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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